Das Tagtraumännchen versuchte sich kreischend aus
Thors Griff zu lösen. Der helle Schrei des kleinen
Geschöpfes schallte durch das Bauernhaus. Thor
hielt das Tagtraumännchen mit beiden Händen fest
umschlungen. Das Wesen versuchte sich loszulösen
und strampelte stärker und stärker. Als es merkte,
dass seine Anstrengungen vergeblich waren, biss es
mit seinen spitzen Zähnen in Thors rechten Daumen
hinein. Thor schrie auf und ließ das Männchen
fallen. Der Verwundete begann an seinem Daumen zu
lutschen. Die Kreatur hatte feste zugebissen und
Thor ärgerte sich, dass er es an Bedacht hatte
fehlen lassen. Er hatte bis jetzt nur von diesen
Wesen gehört und es war das erste Mal, dass er ein
solches mit eigenen Augen sah. Thor schloss das
Fenster mit der linken Hand und schaute sich in der
kleinen Stube um. Der Vollmond erleuchtete den Raum.
Plötzlich öffnete sich die Tür und der Zwerg trat
mit seiner Axt in der Hand ein.
„Sire, ist alles in Ordnung?“,
fragte Piemel besorgt.
„Rasch, schließt die Tür!“,
rief Thor.
Im selben Moment schoss das Tagtraumännchen
schreiend unter dem Bett hervor und lief zu der
offenen Tür auf den Zwerg zu.
„Himmel, nein! Was zum Teufel
ist das?“, rief der Zwerg erschrocken.
„So fangt es!“,
rief Thor und sprang instinktiv die Bettlade hinauf.
Piemel schlug mit der Axt zu, traf jedoch nur die
Holzbohlen neben sich. Das Wesen war zu schnell und
lief nun kreischend an dem Zwerg vorbei und aus der
Tür hinaus. Wenige Augenblicke später, hörten
Thor und Piemel einen Schrei aus der Stube des
Jungen.
„AHHH!“
Thor und der Zwerg liefen durch den Flur, zu Thios
Zimmer. Das Tagtraumännchen stand am Kopfende des
Bettes hinter dem aufgerichteten Jungen und hielt
ihm Thors Dolch, den „Schächter“, mit der
rechten Hand an den Hals. Mit der anderen Hand hielt
das Männchen den Jungen bei den Haaren. Als
Gegenleistung für den Traum, hatte das Wesen sich
offenbar an Thors Ausrüstung bedient, ja fühlte
sich möglicherweise durch den einzigartigen Dolch
von dem Schlafenden angezogen.
„So tretet zurück!“,
sprach das Tagtraumännchen und hielt dem Jungen den
Dolch drohend an die Schläfe.
Thor stand vor dem Zwerg im Türrahmen und hielt ihn
fest, damit der nicht wutentbrannt in das Zimmer
hineinstürmen würde. Der Dämonenbeschwörer
Hassler trat aus seiner Stube hinaus und stellte
sich schlaftrunken hinter die beiden.
„Was ist passiert?“,
fragte der Alte und rieb sich im Nachthemd die
Augen.
„Ein Tagtraumännchen! Es hat
den Jungen zur Geisel!“, brummte Piemel
ungehalten.
„Hört mir zu, Zauberwesen! Ihr
habt keine Chance! Wir sind zu dritt und ihr werdet
so oder so nicht lange leben!“, sprach
Thor auf das Wesen ein.
„Das lasst meine Sorge sein! Nun
geht aus dem Weg, Meister!“, fauchte
das Männchen und drohte mit dem Dolch.
„Ihr werdet nicht weit
kommen!“, sprach Thor erregt.
„Wir werden sehen!“,
lachte das Tagtraumännchen tückisch.
„Lasst mich mit der Kreatur
sprechen!“, wandte Hassler ein und
drängte sich an Piemel und Thor vorbei.
„Keinen Schritt weiter oder der
Junge stirbt!“, sprach das
Tagtraumännchen kaltblütig.
Hassler hielt die Hände schlichtend in die Höhe.
„Wir werden dir nichts tun! Aber
lass den Jungen frei!“, rief der Greis.
„Ihr Abenteurer, hört mir zu!
Ihr werdet nun fünf Schritte von der Tür
zurückweichen oder es wird euch leidtun!“,
sprach das Wesen.
Hassler versuchte das Tagtraumännchen mit sanften
Auf- und Abwärtsbewegungen seiner Hände zu
beschwichtigen.
„So beruhige dich, Wesen!“,
sprach der Dämonenbeschwörer.
„Schnauze! Du
Schätzchen, runter auf
deine Knie!“, keifte das
Tagtraumännchen und trat Thio dem Jungen in den
Rücken hinein.
Der Junge gehorchte und ging auf dem hölzernen
Boden auf alle Viere. Das Tagtraumännchen stieg vom
Bett aus auf den Rücken des Jungen hinauf und
packte ihn mit einer Hand an den Haaren. Mit der
anderen Hand hielt er ihm den Dolch an den Hals.
„Nun Freunde, wie sieht es aus?
Weg von der Tür oder der Junge stirbt!“,
sprach das Wesen.
Thor, Piemel und Hassler traten langsam von der
Tür, rückwärts in den Flur hinein. Hassler
versuchte weiter das Tagtraumännchen mit besonnenen
Bewegungen seiner Hände zu besänftigen. Thor
musste Piemel mit der Hand zurückschieben, damit
dieser in seiner Wut nicht auf das Wesen zustürmte.
„Zurück! Zurück! So ist es
gut. Schön langsam!“, krächzte das
Wesen.
Der Junge krabbelte mit dem Tagtraumännchen auf den
Schultern durch die Stube zur Tür. Thor, Piemel und
Hassler traten nach rechts, rückwärts in den Flur
hinein. Das Tagtraumännchen ritt unter
Drohgebärden auf dem Jungen nach links, an den
dreien vorbei, auf die Holztreppe zu.
„Jetzt die Stufen! So ist es
gut, eine nach der anderen!“, sprach
das Tagtraumännchen während Thio der Junge auf
allen Vieren die ersten Stufen hinunterstieg.
„Euch sage ich noch etwas,
Freunde! Wenn ihr oder auch nur einer von euch
versucht mir zu folgen, dann ist der Junge bereits
so gut wie tot!“, rief das Wesen und
hob den Dolch drohend empor.
„Ich werde dich töten und über
dem Feuer braten, du garstiges kleines Ungeheuer!“,
brach es aus dem Zwerg heraus. Thor musste ihn
zurückhalten.
„Eh, Eh, Eh! Vorsicht Zwerg!
Pass auf was du sagst! Sonst werde ich dich des
Nachts in deinen Träumen besuchen!“,
sprach das Wesen und richtete die Spitze des Dolches
warnend zum Zwerge hinauf.
Der Junge stieg die letzte der Stufen krabbelnd
hinunter und lief über den Boden des Erdgeschosses
auf allen Vieren zur Haustür. Piemel klammerte sich
an das Geländer der Holztreppe und schüttelte sich
schnaubend vor Wut. Thio öffnete die Tür und man
hörte das Tagtraumännchen lachen. Dann ritt das
Wesen die Stufen der Veranda auf dem Jungen
hinunter. Der Schneekrieger schrie auf und Thor,
Piemel und Hassler stiegen die Treppe hinab.
Auf der Veranda blieben die drei stehen.
„Wo sind sie hin?“, fragte Thor den
Schneekrieger.
„Ich konnte es nicht sehen, ich
stehe mit dem Rücken zum Felde!“,
sprach der Schneekrieger starr.
Piemel zündete drei Fackeln an und reichte
jeweils eine an Thor und Hassler. Der Zwerg nahm
seinen Helm vom Kopf des Schneekriegers ab und
setzte ihn auf. Die Gruppe stieg die Veranda
hinunter und teilte sich auf der Wiese vor dem
Bauernhaus auf. Es schneite. Thor entdeckte die
Spuren des krabbelnden Jungen im Schnee.
„Hier her!“
Piemel und Hassler liefen zu ihm hinüber. Man
entschied, dass Hassler ins Bauernhaus zurückgehen
würde. Thor und Piemel wollten sogleich die
Verfolgung des Jungen und seines Reiters aufnehmen.
Nach einigen Metern führte sie die Spur des Jungen
in den Wald hinein. Das Tagtraumännchen ließ Thio
über eingeschneite Holzstämme und durch tiefen
Schnee krabbeln. Thor und Piemel ließen die
Bergkette Galas im Rücken und folgten unter den
weißen Ästen von Fichten und Tannen, den frischen
Abdrücken des Jungen im Schnee. Irgendwann
erblickte Thor in der Ferne, durch das
Schneegestöber hindurch und im Schein des
Vollmondes, den Eingang eines Erdbaus. Dort drinnen
musste das Versteck des kleinen Wesens liegen!
„Seht, ein Erdloch!“
Thor und Piemel liefen zu dem Erdhügel hinüber.
„Junge, hörst du mich?“,
rief Thor fragend in das Loch des Baus hinein.
„Ja Herr, ich bin hier!“,
klang es von unten.
„Kannst Du hinauskrabbeln,
Junge?“, fragte Thor.
„Nein Herr, mein Bein… und das
Wesen, es hat mich festgebunden!“, rief
Thio der Junge zum Zwerg und zum Helden hinauf.
In ungefähr zwanzig Metern Entfernung erblickte
Thor jetzt das Tagtraumännchen. Es schaute aus der
runden Öffnung eines Baumstammes hinaus. Nun wo es
bemerkte, dass Thor es im Licht des Vollmondes
entdeckt hatte, kletterte es aus seinem Versteck. Es
klammerte sich von außen mit beiden Händen an den
Rand der kreisrunden Öffnung, löste seinen Griff
und rutschte nun gackernd an der Rinde des Baumes
hinunter. Das Männchen plumpste in den Schnee,
rappelte sich auf, schüttelte die weißen
Flöckchen von Ärmchen und Beinchen und lief von
dannen.
„Ich bin zu groß für das Loch,
ihr müsst hinuntersteigen! Ich werde in der
Zwischenzeit das Wesen verfolgen!“,
sprach Thor.